Aug 18, 2013 Pedro May Asien, Russland (Asien), Transsib (via Mongolia), Wallpaper, 0
Die Reise beginnt in Peking und endet in Irkutsk. Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist mehr als eine Zeitreise durch die Epochen der Industrialisierung, die in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität in China, der Mongolei und in Russland eingesetzt haben.
Mehr oder weniger 24 Stunden dauert der Transfer durch die Mongolei. Wenn man bedenkt, dass Russland, China und die Mongolei zu den größten Staaten der Welt gehören, sind drei Länder in drei Tagen eine bemerkenswerte Bilanz. Drei Nationen bedeuten aber auch zwei Grenzüberübergänge. Genau genommen sind es acht Kontrollen die man jeweils in Tiefschlafphase um Mitternacht zu bewältigen hat.
Ausreise China – Einreise Mongolei – Ausreise Mongolei – Einreise Russland. Es erwarten einen jeweils eine Polizei- und eine Zollkontrolle. Das macht wie gesagt 8 Kontrollen. Jede Institution wird von mindestens 2 Beamten und in Russland sogar von einem Spürhund je Wagon begleitet. Wer diese Strecke regelmäßig frequentiert wird den scharfen Ton der Beamten als lästig empfinden bzw. abstumpfen und den unabdingbaren Akt der Bürokratie als gegeben hinnehmen. Es gibt den Begriff der sowjetifizierten Bürokratie. Dieser bezeichnet einfache administrative Aktivitäten, die aber aus einer Gewohnheit heraus künstlich kompliziert vollzogen werden.
Konkret bedeutet dies, dass der Reisende ständig irgendwelche Ein- oder Ausreiseformulare ausfüllen muss, die zwar alle gewissenhaft abgestempelt und eingesammelt werden aber später in irgendwelchen Schränken für immer verschwinden. Es bleibt zu bezweifeln, ob die Beamten diese Formulare bei Bedarf wieder finden würden. Auch wenn alle drei passierten Länder die Grenzübertrittsformalitäten ähnlich handhaben, so lassen sich kleine Unterschiede erkennen. Und genau diese Unterschiede sind es, die einige Zeit für Gesprächsstoff in der Schlafwagenkabine sorgen. Auch deshalb wird es während der Fahrt nie langweilig. Schließlich will man ja auch hinter die Kulissen schauen und nicht nur aus dem Fenster.
Wenn die Zollbeamten an den Grenzübergängen den Zug betreten und sich ihr Gehalt damit verdienen, die Koffer und Obstkisten der Reisenden zu untersuchen, hat man sehr gute Möglichkeiten hinter die Kulissen der Bürokratie zu blicken. Schließlich beobachtet man die Staatsbeamten ja bei der Arbeit. Jede Regung und jeder Stempelabdruck wird interpretiert.
Wenn eine attraktive Zöllnerin mit einer Waffe am Gürtel ein Zugabteil betritt, entfachen danach Diskussionen wie das Liebesleben dieser Dame wohl aussehen mag. Es bleiben Phantasien die kein Mann aufzulösen vermag. Jedenfalls kein Reisender in dem kontrollierten Zugabteil. Leider!
Es gibt in der Tat Unterschiede wie die Beamten an den vier Grenzen ihre Kontrollen zelebrieren. Die männlichen Beamten an der chinesischen Grenze sind schmalschultrig und klein gewachsen. Höflichkeitsfloskeln scheinen ihnen unbekannt zu sein. Der Stempeldruck des Ausreisestempels im Reisepass ist geringer als jener der Russen. Aber diese Details kann man eigentlich erst im Nachhinein vergleichen, wenn man als Fachmann aus den acht Grenzkontrollen hervorgegangen ist. Vielleicht ist aber auch der Stempeldruck an der chinesisch-mongolischen Grenze nicht die Hauptattraktion.
Vier Stunden dauert es bis die chinesische Spurbreite auf den Standard der russischen Schienenbreite erweitert wird. In China fahren die Züge wie auch in Europa auf einer so genannten Normalspur, während in Russland und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion auf Breitspur gefahren wird.
Die Passagiere haben die Möglichkeit während des Fahrgestellumbaus im Zug zu verbleiben oder sich für 3 Stunden in dem betonierten Bahnhofsgebäude im chinesischen Erlian einsperren zu lassen. Das ist eine große Entscheidungsfreiheit, die einem die sonst strengen Schaffner gewähren.
Beide Varianten haben Vor- und Nachteile und sollten ganz nach den eigenen persönlichen Bedürfnissen entschieden werden. Letztendlich wird man diese Entscheidung sogar von den primitivsten Bedürfnissen eines Lebewesens abhängig machen. Nämlich von der Größe der körpereigenen Blase oder vom Hunger.
Das Bahnhofsgebäude hat zwar einen Supermarkt in dem man sein letztes chinesisches Geld ausgeben kann, ist aber sonst mehr als langweilig. Man ist gefangen in einem grauen Gefängnis mit Zugpassagieren, die darüber nachdenken ob es die richtige Entscheidung war nun die Zeit in dem Bahnhof zu verbringen oder ob es nicht spannender gewesen wäre im Zug den Arbeitern beim Fahrwerksumbau zuzusehen. Besonders wenn der Blick auf die Ketten fällt, mit dem das Gebäude zum Bahnsteig hin abgeriegelt wurde. Hungrige Reisende werden sich für die Option Supermarkt mit Bahnhofsgefängnis entscheiden. Das klingt und ist wie ein Menü, dass es nur in dieser Kombination gibt.
Wer sich aber für die technische und logistische Leistung des Bahnpersonals bezüglich des Wechsels der Radachsen interessiert und dies vom Zugfenster aus beobachten möchte, wird im Zug verbleiben und auf den Besuch des Lebensmittelmarktes verzichten. Vorausgesetzt man ist in der Lage für ca. 6 Stunden auf einen Toilettengang zu verzichten. Die Toiletten werden schon ca. 30 Minuten bevor der Zug den Bahnhof erreicht zugesperrt. Denn der Grenzbezirk beginnt schon um einiges vor der Grenzstadt Erlian und in diesem sieht man es nicht gerne, wenn Fäkalien durch das Abflussloch der Kloschüssel hindurch rutschen um schließlich auf den Bahnschwellen zerschmettern. Danach hat man die 4 Stunden des Räderwechsels ebenfalls mit einer weiterhin geschlossenen Zugtoilette zu überstehen. Aber die Grenze ist noch lange nicht überschritten. In den nächsten 1,5 Stunden folgt die Einreise in die Mongolei. Ebenfalls mit geschlossener Toilettentür. Dieses Menü beinhaltet also eine Technikshow, die es nur an den Grenzen des russischen Schienennetzes gibt und von einem geschlossenen Klo für ca. sechs Stunden begleitet wird. Es ist etwas Besonderes, denn das russische Eisenbahnnetz ist das größte und breiteste der Welt.
Die mongolischen Grenzbeamten überraschen mit energischen Frauen im Dienst. Es ist nicht schwer ihnen ein Lächeln abzugewinnen. Trotzdem sind sie eifrig. Jedenfalls eifriger als ihre chinesischen Nachbarn. Denn die Frau in der kampfanzugähnlichen Uniform klettert ohne zu zögern auf die Stockbetten und untersucht Verborgenes in der Gepäckablage über der Eingangtür zum Schlafwagenabteil. Es scheint sie nicht zu stören, dass die Männer die Chance nutzen die Frauen bei diesem Balanceakt über Kopfhöhe ausgiebig zu mustern und auch mit den Augen an den Rundungen der engen Uniform hängen zu bleiben.
Spätestens an der russischen Grenze fällt es reisenden Frauen nicht schwer, selbst Mitternachts, wach zu bleiben. Große breitschultrige Beamte betreten den Zug. Links ein Schlagstock, rechts eine Pistole am Gürtel, der den Herren mit den ernsten Mienen nicht nur zusätzliche Autorität sondern auch Männlichkeit verleit. Wenn auch sonst in Russland nicht alles auf dem mondernsten Stand zu sein scheint, könnte man sich hier täuschen. Die Männer in den schwarzen Uniformen halten schwarze Notebooks in der Hand. Mit diesen scannen sie die Visa und können zusätzliche Daten eintragen. Wenn man sich kurz vorher an einem der kohlegeheizten Wasserkocher bedient hat, um sich eine Suppe aufzubrühen wirkt das Beamtennotebook schon fast futuristisch.
Leider wird an der mongolisch-russischen Grenze der mongolische Speisewagon gegen einen russischen getauscht. Ok, der Kaffee schmeckt im russischen Speisewagon besser, aber die Einrichtung ist schon fast auf mitteleuropäischem Niveau. Der chinesische Speisewagen bei der Fahrt auf chinesischem Hohheitsgebiet ist ständig überfüllt und der Service hat nichts mit jenem gemeinsam, den man in der chinesischen Gastronomie in den großen Städten kennen gelernt hat. In der Mongolei hingegen ist nicht nur der Service im Speisewagen persönlicher, sondern man hat auch das Gefühl in einer anderen Welt zu sein. Zum einen ist es der Blick aus dem Fenster, der in der absoluten Wildnis die höchstens von ein paar Pferden unterbrochen wird, endet. Zum anderen gleicht der mongolische Speisewagon einem fahrenden Holzknechtmuseum aus dem bayerischen Wald. Aufwendig geschnitzte Holzornamente trennen die Sitzgruppen voneinander. An den Wänden wackeln Reitergemälde neben Pfeil und Bogen.
Wenn die stets fröhliche Bedienung nicht gerade mit ihrem Mobiltelefon spielt, versucht sie den Gästen die Wünsche von den Lippen abzulesen. Bei Touristen bleibt ihr auch nichts anderes übrig, denn ohne Russischkenntnisse beschränkt sich die Konversation nur auf ein Minimum. Aber ein oder mehrere gut gekühlte Biere und echte Hausmannskost schaffen es trotzdem immer wieder, sich aufs neue mit Händen und Füßen zu verständigen und gleichzeitig ein paar russische Worte zu lernen.
Während die hungrigen Passagiere im Zugrestaurant sitzen bereiten sich die Schaffner ihr eigenes Essen zu. Sie haben Zeit und Muße ein exzellentes Essen für sich selbst zuzubereiten. Es scheint als würden sich die chinesischen Schaffner in den chinesischen Wagons täglich aufs Neue selbst zelebrieren. Über mehrere Stunden schneiden, braten und grillen sie sich Köstlichkeiten die sie aus ihrer Heimat kennen. Die chinesischen Schaffner machen sogar den Nudelteig und die Maultaschen selbst. Es fehlt ihnen an nichts. Gemüse, Fleisch und Mehl gehören neben einem großen Metzgermesser und einem Nudelholz zur Grundausstattung. Gegessen wird schließlich gemeinsam im Güterwagon am Anfang des Zuges. Obwohl die Tür zum Güterwagon immer offen steht, ist es den Gästen streng untersagt, den mit Kisten und Gartenstühlen eingerichteten Speiseraum zu betreten.
Eigentlich hat jeder Wagon auch einen Waschraum, aber dieser ist für die Reisenden nicht zugänglich. Denn darin horten die Schaffner ihre Lebensmittel und wachen über sie, wie über ihren eigenen Augapfel. Der Waschraum der eigenhändig zur Speisekammer umfunktioniert wurde, liegt praktisch gegenüber dem Herzen eines jeden Wagons: dem öffentlich zugänglichen Wasserkocher und dem Kohleofen auf dem die aufwendig zubereiteten Speisen gekocht werden.
Der Zutritt zu dem winzigen Kämmerlein mit dem heftig verrußten Kohleofen ist für Fremde ebenfalls streng verboten. Fotografierende werden mit besonders bösen Blicken bestraft. Wenn diese strengen Blicke begleitet von einem erhobenen Zeigefinger nicht ausreichen, ist mit Sanktionen zu rechnen. Das größte Druckmittel der Schaffner ist das Zusperren der Toiletten, dicht gefolgt vom Verriegeln der Fenster im Gang. Durch die verschlossenen Fenster entsteht im Sommer eine unangenehme Hitze im Wagon. Denn nicht alle Züge auf der Strecke von Peking nach Moskau haben eine Klimaanlage.
In den Wagons der zweiten Klasse gibt es nur wenige Steckdosen für Geräte die mit 230 Volt betrieben werden. Eine weitere Investigation wäre notwendig um herauszufinden, ob die Schaffner auf die 230 Volt Versorgung Einfluss haben und ob sie das Abschalten der Steckdosen in den Gängen der zweiten Klasse als Strafmaßnahme bei Nichtbefolgen ihrer Anweisungen nutzen.
Die Wagons der ersten Klasse haben jeweils eine eigene 230 Volt Steckdose im Abteil. In der zweiten Klasse befinden sich nur wenige Steckdosen in den Gängen. Es ist also oft sehr schwer wichtige Geräte wie Notebook, Kamera und Mobiltelefon während der langen Reise zu laden. Deshalb sei jedem Reisenden der zweiten Klasse geraten, sich um eine Bekanntschaft mit einem Passagier in der ersten Klasse zu bemühen. Spätestens wenn der Akku der Kamera leer ist.
Es sind Gegensätze auf kleinstem Raum, die in dem Zug, der 7 Tage von Peking nach Moskau benötigt, parallel existieren. Touristen aus Lateinamerika und Händler aus der Mongolei schlafen in einem Abteil. In den Gängen halten sich sogar chinesische Studenten auf, die von Hongkong bis Olso 14 Tage lang mit dem Zug reisen. Aber auch mit Plastiktüten bepackte Kurzstreckenpassagiere, wie z. B. russische Familien sind auf dem Weg zu ihrem Wochenendhaus. Kurzstrecke im Zug 003 von Peking nach Moskau bedeutet, dass man vielleicht nur 6 Stunden von Haltestelle zu Haltestelle reist.
Letztendlich ist es eine Reise durch die Epochen der Zeit. Am Bahnhof in Peking stehen die schnellsten Züge der Welt auf den Bahnsteigen neben jenem der Transsib in dem die Schaffner ihr Essen auf einem kohlebetriebenen Kanonenofen kochen. Bei der Abreise passiert der Zug verglaste Hochhausfronten internationaler Konzerne bis er schließlich die Armutsviertel am Stadtrand erreicht.
In der Mongolei gibt es während der 24stündigen Transferfahrt durch die Steppe keine fünf Teerstraßen in Sichtweite. In Russland schiebt sich nicht nur der größte Wald, sondern auch der größte Trinkwasserspeicher der Welt an den Fenstern vorbei. Die Taiga und der Baikalsee sind russische Superlativen die über ein gesundes Leben entscheiden können. Denn der 670 Km lange Baikalsee hat sauberes Trinkwasser, von dem die Bürger der Metropolen Chinas nur träumen können. Selbst das chinesische Trinkwasser in Flaschen ist teilweise schwermetallverseucht.
Eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn ist eine Reise zwischen den Metropolen. Eine Reise bei der die Seele immer wieder aufatmet, sobald man die Betonbunker der industrialisierten Welt Asiens verlässt. Es ist eine Reise bei der die Seele in der Geschwindigkeit des rhythmischen Ratterns der Schienenstöße baumelt. Und es ist eine Reise die den großen Unterschied zwischen Natur und Umweltzerstörung durch die betonierten Flächen der Trabantenstädte aufzeigt.
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